Das Anthropozän zwischen Tiefenzeit und Beschleunigung: Ästhetik, Funktion und Vermittlungsleistung literarischer Repräsentationen im Zeitalter des Menschen
Germanistentag 2019 in Saarbrücken
23.09.2019
Der Mensch ist zu einer treibenden globalen Kraft geworden. Als geologischer Faktor verändert er die Erde maßgeblich. Die Rede ist daher mittlerweile vom Anthropozän – dem Zeitalter des Menschen. Dessen Dauer ist ungewiss und hängt vom Überleben der Menschheit ab – sein Ende weist also in die Zukunft, während sein Beginn auf eine selbst für erdgeschichtliche Verhältnisse unerhörte Zunahme menschlicher Aktivität und Macht hindeutet. Diese wird mit dem Begriff der „Großen Beschleunigung“ (Great Acceleration) beschrieben und charakterisiert im Wesentlichen den Modus der heutigen Gesellschaft. Zugleich reflektiert der geologische Fachbegriff Anthropozän eine für den Menschen kognitiv nicht zu verarbeitende Tiefendimension erdgeschichtlicher Zusammenhänge und führt damit die Hybris menschlicher Selbstüberschätzung vor Augen. Prozesse der Beschleunigung sowie der „Deep Time“ (McPhee: Annals of the Former World. New York: Farrar, Straus and Giroux 1998) können daher als die zentralen Modi des Anthropozäns bezeichnet werden und auch die Reflexion der zeitlichen Dimension ist jeweils zentraler Bestandteil. Bereits Max Frisch beschreibt die Divergenz zeitlicher Modi im Anthropozän mit folgenden Worten:
„Wenn der Kanton mit seinem gelben Bulldozer kommt, um da oder dort die Straße zu verbreitern, sieht man Moräne, Schutt von den großen Gletschern der Eiszeit; die Moräne ist so hart, daß gesprengt werden muß. Dann blasen sie drei Mal in ein kleines Horn und zeigen eine rote Fahne, kurz darauf prasselt es Kies und Geröll aus der Eiszeit.“ (Frisch 1979/2014: Der Mensch erscheint im Holozän. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 57f.)
Die zunehmende Beschleunigung – z.B. in der Umgestaltung der Erdoberfläche, ist kennzeichnend für menschliche Tätigkeit im Anthropozän. Sie steht in Spannung zu dem tiefenzeitlichen Bewusstsein, das im neuen Zeitalter des Menschen reflektiert wird.
Literaturwissenschaftlich bzw. literaturdidaktisch interessant ist nun, wie sich die beschriebene Divergenz der temporalen Modi des Anthropozäns in literarischen Texten manifestiert und reflektiert wird. Darum soll im Panel ausgehend von weiteren konkreten Text- und Medienbeispielen reflektiert werden, welche Erzählstrategien sich erkennen lassen, wie die ästhetische Umsetzung gestaltet ist und welche Impulse die literarischen Repräsentationen des Anthropozäns für eine werteorientierte Literaturdidaktik liefern können.
Vortragende:
Dr. Christian Hoiß (München): Die Menschheit dreht auf - Das Anthropozän zwischen Tiefenzeit und Beschleunigung
Prof. Dr. Kiley M. Kost (Minneapolis): Geologisches Denken und Schreiben: Peter Handke und die Tiefenzeit
Dr. Florian Schulz-Pernice (München): ›Nichts ist mir zu groß‹ - Zeit und literarische Bildung im Anthropozän"
Dr. Rebecca Gudat (Frankfurt): Das Konzept der Entschleunigung in der Literatur der Lebensreformbewegung
Prof. Dr. Sabine Anselm (München): ›Nur noch schnell die Welt retten‹ – Hysterie, Hype, Hybris?